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Freiheitsfall

"Die Devise? Krise. Ich habe ein Faible für Krisen. Nicht die kleinen Alltags-Krisen, wie den verpassten Zug oder den kalten Kaffee. Mich faszinieren Lebenskrisen. Richtig große Umbrüche, Momente, in denen wir fallen. Und am Boden ankommen. Manchmal schnell, manchmal ganz langsam. Dabei ist der Bodenkontakt die Essenz. Das unten ankommen. Wir sinken herab, wie ein kleiner Kieselstein, der vom Meer verschlungen wird. Und unten, am Grund gelandet, haben wir die Möglichkeit, uns wieder abzustoßen. Wir haben nicht immer die Kraft – aber im Grunde genommen die Chance dazu. Ich habe viele dieser Krisen durchlebt. Mal liegend, mal sitzend. Mein Aufstehen ist anders als deines. Wenn ich wieder aufstehe, dann vom Krisenboden empor. Stolz, stark, schön. Doch bis dahin war es ein langer Weg. 

 

Was passiert mit einem Menschen, der fast ohne Muskeln im Rollstuhl sitzend, wieder und wieder zu hören bekommt, dass aus ihm nichts wird? Dieser Mensch bin ich. Mein junges Ich, gefangen in einer Schule für Sonderpädagogik. Mit sieben Jahren ziehen meine Eltern von Kasachstan nach Deutschland. Das erste halbe Jahr verbringe ich in deutschen Krankenhäusern. Ich verstehe die Sprache nicht – aber bekomme die Gewissheit, dass ich eine Krankheit habe. Und dass, wie mein Vater sich erhoffte, das Kind nicht wieder "normal" sein wird. Ein erster eigener Rollstuhl, in die Schule fahren, ankommen – auf dem Boden meiner neuen Realität. Ich bin anders als die anderen Kinder. Doch ich habe gleich große Träume. 

 

Ich will auf einer Bühne stehen. Menschen inspirieren. Das Leben lieben und genießen. Lachen. Geschichten erzählen. Das tue ich heute. Mein Lachen ist echt. Ich nehme mein Schicksal mit Humor – wie viel Energie ich freisetze, wenn ich von Herzen lache. Das musste ich neu lernen. Denn lange war mein Antrieb Wut. Ich wollte es allen zeigen. Fuck you all. Ich schaffe das. Erst recht, wenn ihr nicht an mich glaubt. Doch Wut macht einsam. Sie erschöpft. Sie kriecht mit umher, blockiert die Freudenfunken des Herzens und die Leichtigkeit des Seins. Erst eine erneute Lebenskrise, in der ich dem Tod noch einmal von der Schippe gerollt bin, bringt Befreiung. 

 

Ich atme. Ich esse. Ich trinke. Ich bin. Ich kann alles sein, was ich mir vorstelle. Ich werde die, die ich in meinen Träumen schon viele Male war. Ich erkenne Menschen – und sie erkennen mich, mein Inneres. Die Erkenntnis? Ich muss aufgeben, meine Behinderung zum Thema zu machen. Der Satz liest sich so einfach. Ich begann eine Therapie. 15 Jahre hatte ich nicht geweint. Ich spürte immer mehr den Freiheitsfall, das Fliegen, das Kribbeln im Bauch, das meine Selbstbestimmtheit ausmacht. Klar – ich brauche nach wie vor Hilfe, wenn ich morgens unter die Dusche schlüpfe. Aber ich brauche keine Hilfe dabei, in meinem Inneren frei, unabhängig, liebevoll zu leben. Und ich liebe mein Leben heute so sehr. 

 

Die Devise? Krise. Unser Alleinstellungsmerkmal sind unsere Krisen, die Wunden, die wir aus jedem Kampf davongetragen haben. Manche Wunden müssen wieder aufreißen. Andere werden mit Tränen gefüllt und wieder welche verbinden uns miteinander. Doch sie alle heilen. Früher oder später. Und machen uns zu den Menschen, die wir sind."

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Anastasia Umrik

Die Hamburgerin Anastasia Umrik hat eine Muskelerkrankung namens "Spinale Muskelatrophie". Heute lebt sie ihre Jugendträume und arbeitet als Coach, Rednerin und Beraterin. Aktuell steckt sie inmitten der Ausarbeitung ihres ersten, eigenen Buches, auf das wir uns sehr freuen. Es trägt den Namen "Herzlich willkommen, du bist in einer Krise. Ab jetzt wird alles gut!". 

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