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Halt in

meiner Vielfalt

"Die Finger auf meiner Handinnenfläche kreisen flüchtig wie die Erde um die Sonne. Doch erzählen sie Geschichten. Geschichten aus meinem eigenen Kosmos. Jede Linie auf meiner Hand erzählt eine eigene. Diese Hände haben viel begriffen in meinem Leben. Noch heute spüre ich die Finger meiner Großmutter, wie sie mir und meinen Geschwistern des Abends auf ihrem kleinen Hof im ländlichen Afghanistan Geschichten auf unseren Händen erzählte. Wir hatten keine Bücher – aber genug Fantasie. Ich war 3 ½ Jahre alt, als wir Afghanistan verlassen mussten. 

 

Eine Hand, jede Fingerkuppe, jede Linie ist individuell. Es gibt sie nur einmal, passend zu jedem Menschen. Blicke ich in meine Hände, so kann ich meine eigene Identität nicht an fünf Fingern abzählen. Und auch meine Geschichte verläuft nicht in einer geraden, klaren Linie. Ich fühle mich in Deutschland mittlerweile Zuhause, habe meine Wurzeln in Afghanistan, dem Herzens Asiens. Und doch steckt meine Seele manchmal irgendwo dazwischen. Zwischen den Welten, den Lebensabschnitten, den einschneidenden Erlebnissen. 

 

Hand in Hand spüre ich meinen jüngeren Bruder, wie wir uns festhalten, als wir beim Grenzübergang nach Europa von der Polizei entdeckt wurden. Wir kamen ins Gefängnis, uns waren die Hände gebunden. Neun Jahre alt, mit dem Gefühl, dass mir mein Leben gerade durch die Hände rinnt und ich nie wieder das Gesicht meiner Mama oder meines Papas berühren werden. Gerne würde ich manchmal zurückreisen zu diesem Moment und der kleinen Tahmina ins Ohr flüstern, dass es eine schwere Zeit wird, aber dass ich meine Eltern nach vier Monaten Gefangenschaft wiedersehen werde. 

 

In Deutschland angekommen zog ich mich vollkommen zurück. Wir waren nie arm gewesen, hatten finanzielle Sicherheit, ein akzeptables Leben. So wie die Zeit in Usbekistan. Dort lebten wir viele Jahre, gingen zur Grundschule, integrierten uns, so gut es eben möglich war. Unseren Schmuck mussten wir allerdings ablegen, wenn wir in die Schule gingen. Auch die leckere russische Schokolade durften wir nicht mit den usbekischen Kindern teilen. Nur kein Aufsehen erregen, nur nicht auffallen, beim langen Rastmachen unserer noch viel längeren Reise von Afghanistan nach Deutschland.  

 

Heute stehe ich in meiner Wohnung in München. Eine gemütliche, großzügige Wohnung, ein Puzzleteil meines Zuhausegefühls. In den Händen halte ich ein kleines, grünes Bündel. Ich habe es seit über 20 Jahren bei mir. Ein Geschenk meiner Großmutter. Ein Paket voller guter Wünsche und positiver Gedanken. Mein Halt in meiner Vielfalt. 

 

Ich halte mich an die, die ich heute bin. Eine Frau, die als junges Mädchen mit ihrer Familie nach Deutschland floh und sieben Jahre in Containern lebte. Eine Frau, die am eigenen Leibe erfahren hat, was eine Flucht über Ländergrenzen hinweg mit Menschen machen kann. Welche Traumata ein Körper speichert. Und wie viel Hoffnung Familie und Freunde spenden. Heute stehe ich inmitten der, die ich bin. Divers, gebildet, vielfältig schön. Ich halte meine Hände auf, gebe und nehme, liebe und lebe. Meine Weiblichkeit, meine Geschichte, meine Eltern, meine Brüder und Schwestern. Ich bin gelebte Fluchtgeschichte. Und ich wünsche mir, dass ich so viele Menschen wie möglich mit dem Erzählen meiner Geschichte berühre."

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Tahmina ist 36 Jahre alt und hat Bildungs-, Politikwissenschaften und Unternehmensethik studiert. Zudem ist sie Social Justice und Radical Diversity Trainerin und gibt freiberuflich Workshops im Kontext von Diversität und Antidiskriminierung. Ihre Schwerpunkte sind Intersektionalität und Inklusion vor allem im Kontext Flucht, Migration, Bildung und Kindheiten. Hauptberuflich war sie zuletzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Fachstelle Kinderwelten und hat sich mit dem System Schule im Kontext von Diversität und Antidiskriminierung auseinandergesetzt. Mit ihrer eigenen Flucht- und Migrationsgeschichte geht sie heute offen um, um anderen Menschen Mut zu machen und Hoffnung zu geben. Tahmina will zeigen, dass Integration auf vielerlei Ebenen stattfinden darf und kann. Denn trotz der Verschiedenheit können wir dennoch Eins, nämlich Mensch sein.

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